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Matthias Bormuth

Lebensführung in der Moderne

Karl Jaspers und die Psychoanalyse

Verlag frommann-holzboog
MPh 7

382 Seiten, Br.
ISBN 3-7728-2201-0
€ 45.-


»Es ist nicht schlechthin zwingend für den Einzelnen, als was er soziologisch oder psychologisch oder anthropologisch konstruiert wird. Er emanzipiert sich von dem, was die Wissenschaften über ihn anscheinend endgültig ausmachen möchten, indem er das wirklich Erkennbare als ein nur Partikulares und Relatives ergreift.«

Karl Jaspers
Die geistige Situation der Zeit
1932

Für die Leser von Skepsis & Leidenschaft mag dieses Buch ein aufschlussreicher Beitrag sein zur Materialsammlung der Auseinandersetzung rund um den Fragenkomplex der Ideologien, welche die Lebensführung des Einzelnen auf irgendwelche Bestimmungen seines "wahren Menschseins" festlegen wollen und die glauben, für ihn irgendwelche überindividuellen Werte vorgeben zu müssen. Beim Wiederlesen dieser Buchbesprechung kommt mir allerdings der Verdacht auf, dass man sie erst ganz verstehen wird, wenn man das Buch gelesen hat. Ich hoffe aber, dass sie auch eine kleine Anregung gibt zur Lektüre des Werks.

Das Buch handelt von der Auseinandersetzung um die Anklage des Marxismus und vor allem der Psychoanalyse durch Karl Jaspers, der beiden vorwirft, die »Möglichkeit des eigentlichen Selbstseins«, also die Entfaltung der Individualität, durch ihr »falsches Totalwissen« zu verhindern und den Einzelnen »von seiner Freiheit zu befreien«. Beide wissenschaftlichen Theorien würden nach Jaspers dem Individuum als Autoritätssurrogate Normierungsmuster zwingend vorgeben, so dass man nicht mehr gehalten und fähig sei, die eigene Lebensführung in erheblichem Maße selbstverantwortlich zu bestimmen.

Karl Jaspers (1883 - 1969) - Philosoph, Arzt und Psychiater

  • studierte ab 1903 in Berlin, Göttingen und Heidelberg Medizin

  • promovierte 1909 mit der Dissertation »Heimweh und Verbrechen«

  • arbeitete 1908 bis 1915 beim Hirnhistologen Nissl an der psychiatrischen Klinik in Heidelberg

  • 1913: »Allgemeine Psychopathologie«,
    Habilitation bei Windelband im Fach Psychologie

  • 1919: »Psychologie der Weltanschauungen«, gilt als früheste Schrift des Existentialismus

  • 1922 trotz des Widerstandes von Rickert Professor der Philosophie in Heidelberg.

  • 1631: »Geistige Situation der Zeit«

  • 1932: »Philosophie», sein 3-bändiges Hauptwerk

  • während der Naziherrschaft starken Repressalien ausgesetzt, durfte ab 1937 nicht mehr lehren und ab 1938 auch nicht mehr publizieren

  • nach dem Krieg wieder in Heidelberg

  • ab 1948 Professor für Philosophie in Basel

  • 1955: »Wesen und Kritik de Psychotherapie«

Über die Zeitspanne von 1913 (dem Erscheinen von Jaspers »Allgemeiner Psychopathologie«) bis 1968 (dem Versuch von Jürgen Habermas in »Erkenntnis und Interesse« u.a. das Freudsche Denken in seine philosophische Konzeption zu integrieren und damit durch die Übernahme der psychoanalytisch konzipierten sozialpsychologischen Utopie von Alexander Mitscherlich die Psychoanalyse für die intellektuelle Avantgarde der Bundesrepublik Deutschland zu einer Leittheorie ihrer Lebensführung geworden ist) entfaltet das Buch die oft auch sehr polemisch geführte Debatte mit einer Fülle von Materialien, aufschlussreichen Zitaten, Exkursen und Literaturangaben zu den kontroversen Standpunkten.

Im Gegensatz zu anderen Studien über die Psychoanalysekritik von Jaspers versteht der Autor seine Arbeit als eine historische Rekonstruktion der Zusammenhänge, die Jaspers zur Psychoanalysekritik veranlassten. Max Webers Theorie der Moderne, sein Versuch, die motivationale Bedeutung der Wertüberzeugungen und Ideen für das soziale Handeln zu verstehen, und sein Begriff der »Lebensführung« leiten die Interpretation.

Ob die ärztliche / psychotherapeutische Tätigkeit diese individuelle Entscheidungsfreiheit der Patienten respektiere und bestärke oder sie im Gegenteil indoktrinierend schmälere oder gar abtöte ist das zentrale Kriterium für Jaspers Sympathie oder Antipathie gegenüber psychotherapeutischer / psychoanalytischer Theorie und Praxis.

Schon das Vorhandensein einer Theorie, welche ja immer Allgemeingültigkeit beansprucht, wird ihm zum Problem. Als erkenntnistheoretischer Skeptiker anerkennt Jaspers weder das psychiatrische Bestreben, klar »abgegrenzte Krankheiten« festzustellen, noch den theoretischen Reduktionismus und die »zunehmende Simplizität« der psychoanalytischen Deutungsmuster, welche er als zumeist grob und trivialisierend empfindet. Psychologische Theorien sind »Gerede ohne wirkliche Erkenntnis«; sie sind »zwar nach Analogie der naturwissenschaftlichen Theorie aufgestellt«, haben »aber nie den Charakter naturwissenschaftlicher Theorien gewonnen«. Jaspers wurde deshalb von manchen als »ein gefährlicher Nihilist« gebrandmarkt, durch den die Theorien in die Schwebe bloßer Gleichnisse gerieten, was die Festigkeit des ärztlichen Standpunktes zerstört, da ohne Theorie keine Wissenschaft ist - was nicht sein darf, ist nicht!

»Lebensführung«, von Weber gelegentlich noch synonym mit »Lebensstil« verwendet, ist inzwischen ein Konzept der Soziologie geworden, welches die an das Subjekt gebundene strukturelle Eigenlogik seines Verhältnisses zur Gesellschaft in seinem alltäglichen Tätigsein untersucht - und zwar nicht nicht in seinen sozialen Vorgaben, sondern als aktive Konstruktion des betroffenen Einzelnen. Weber untersuchte die Gestaltungsprinzipien der »Lebensführung«, so etwa die auf der Berufspflicht gründende »methodische« Lebensführung, die sich als Reaktion auf die Prädestinationslehre entwickelte und über die innerweltliche Askese die Entstehung des Kapitalismus beförderte. Das »eherne Gehäuse«, sein Bild für den Zwang, den die rationale Wirtschaftsordnung auf die Individuen ausübt, bringt in Webers düsterer Vision zwei Typen von Menschen hervor, die mit spezifischen Qualitäten von Lebensführung korrelieren: »Fachmenschen ohne Geist« und »Genussmenschen ohne Herz«. «Dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben«. Allerdings sieht er in der professionellen Berufswelt eine Chance für die Entwicklung einer verantwortungsethisch inspirierten Lebensführung, für die es darauf ankomme, dass »jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält«.
Der etwas antiquierte Begriff impliziert, dass das handelnde Individuum ihm sinnvoll erscheinende Handlungszwecke wählen kann, so dass seine Lebenspraxis eine gewisse Systematisierung unter den leitenden Sinnkonstrukten erfährt.
Die Tendenz, das soziale Handeln letzten Sinnmustern zu unterstellen und derart spezifische Lebensführungsmuster auszubilden fand Weber sowohl in den Religionen als auch bei säkularisierten Intellektuellen und Philosophen. In der Moderne lässt sich der Begriff aber nur sinnvoll anwenden, wenn ein gewisser Spielraum der individuellen Entscheidungsfreiheit über die möglichen Handlungszwecke besteht.

Schließlich ist es der theoretische Anspruch auf Allgemeingültigkeit, welchem in der praktisch therapeutischen Anwendung die Tendenz innewohnt, die Selbstbestimmung der Persönlichkeit einzuschränken. Die Beteuerung der Anhänger der freudianischen Psychoanalyse, im Gegenteil gerade die Emanzipation der Persönlichkeit zu fördern, ja durch die Analyse erst zu ermöglichen, verdecke nur die tatsächliche Verhinderung der vollen Verantwortung der Individualität. Als eines unter vielen abschreckenden Beispielen nennt er das Theorem des Widerstandes, welches schon von Freud selber als Mittel benutzt worden sei, um gegenteilige Meinungen als pathologisch zu diskreditieren.

Jaspers klagt schließlich Marxismus und Psychoanalyse gleichermaßen an, dass diese die »Möglichkeit eigentlichen Selbstseins«, also die Entfaltung der Individualität, durch ihr »falsches Totalwissen« zu verhindern und damit den Einzelnen »von seiner Freiheit befreien«, indem sie ihm durch pseudowissenschaftliches Gebärden Autoritätssurrogate und Normierungsmuster zwingend vorgeben, so dass man nicht mehr gehalten und fähig ist, die eigene Lebensführung in erheblichem Maße selbstverantwortlich zu bestimmen.

Der bei Jaspers zentrale Terminus der »Existenz« meint »die Weise, wie ich zu mir selbst und zum Transzendenten mich verhalte«. Die von ihm bevorzugte therapeutische Methode ist eine eher philosophische, die er (im Unterschied zur theoriegeleiteten Existenzerklärung oder gar -bewältigung) »Existenzerhellung« nennt. Dabei werden nicht Symptome, Störungen, Krankheitserscheinungen nach theoretischen Vorannahmen gedeutet, wie z.B. in der Psychoanalyse; Jaspers' »existenzielle Kommunikation« versteht sich vielmehr als ein rückhaltlos offenes, kritisches wie faires Gespräch zwischen selbständigen Menschen auf gleichem Niveau, das gleichzeitig als Voraussetzung und Medium der Existenzerhellung dient. Es geht nicht darum, den Verlauf des Lebens zu deuten, wie er (kausal) erklärt werden kann, sondern um das Gewinnen der Einsicht in die Möglichkeit und Notwendigkeit des eigenen Entscheidens, über das außer mir selbst keine anderen befinden können.

Im Gegensatz zur Psychoanalyse darf sich die philosophische Existenzerhellung nicht wissenschaftlich allgemeingültiger Aussagen bedienen. Diese Einstellung steht nicht nur im Gegensatz zu jeder verbindlichen Definition von seelischer »Normalität« und »Gesundheit«, welche das Therapieziel vorgeben soll, sondern auch zu jedem Bild davon, wie man als wahrer Mensch« zu sein oder welcher »menschlichen Natur« gemäß der Einzelne zu leben habe.

Es geht um den Menschen als "mögliche Existenz", der nicht in den zuständlichen und verfügbaren Bedingtheiten und Bedingungen des Daseins aufgeht, sondern sich in seiner Freiheit zu seiner Möglichkeit verhalten kann. Wichtige Bezugspunkte ergeben sich aus dem Erleben von Grenzsituationen: Tod, Leid, und Zufall. »Machen wir uns unsere menschliche Lage auf andere Weise deutlich: Als die Unzuverlässigkeit allen Weltseins«. Grenzsituationen sind spezielle Situationen, die in ihrem Wesen nicht veränderbar sind. Es gibt aber auch andere, lenk- und änderbare Situationen im Leben eines Menschen. Solche Momente wandeln sich und werden zu Möglichkeiten, Gelegenheiten. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder. Sich darüber auseinanderzusetzen führt zu mehr Verantwortlichkeit und zu mehr Bewusstsein über die eigenen Chancen.

Das "therapeutische" Ziel der Existenzbewältigung ist Illusion. Das Ganze des Lebens jedes Einzelnen ist der rationalen Erkenntnis nicht zugänglich; die letzte Antwort ist die Unruhe des Nichtwissens in der Grenzsituation. Hier erfahren wir uns immer wieder als Scheiternde; darin finden wir uns selbst als Philosophierende. «Das Denken kann seinen letzten transzendierenden Schritt nur im Sichselbstaufheben vollziehen.» Was es philosophisch erringt, muss es «wieder und wieder in Frage stellen». Nur das scheiternde Denken kann die «Wucht des Wirklichen» erfahren. Erst das wahre Scheitern führt zum Sein, welches damit nicht als inhaltlicher, sondern als intensiver Zustand bestimmt wird. Der philosophische Gedanke ist ein «Vollzug existentieller Möglichkeiten»; er ist ein Glaube, der zur «existentiellen Achse das innere Handeln» hat. Daraus erwachse ihm seine «erweckende Macht».

Die Zielvorstellung einer selbsverantwortlichen Individualität überschreitet die rein medizinische Vorgabe, die darin bestünde, psychische Freiheitsbeschränkungen durch die Erkrankung wieder auszuheben. Jaspers intendiert als psychotherapeutisches Erziehungsziel die Haltung einer größtmöglichen Unabhängigkeit in der Lebensgestaltung, womit er das philosophische Ideal der frei über sich selbst verfügenden Persönlichkeit markiert.

Die vorliegende Studie von Bormuth befasst sich auch eingehend mit der Ablehnung und Abwehr der Jasperschen Psychoanalyse-Kritik durch die Betroffenen - als Hauptexponenten des psychoanalytischen Gegenstandpunktes werden Alexander Mitscherlich und Jürgen Habermas dargestellt. Eine der Hauptstoßrichtungen der Gegenkritik ist weniger sachbezogen als ideologiekritisch: Jaspers' »philosophischer Glaube« leiste durch die rational uneindeutige Positionsbestimmung auch den konservativen Kräften Vorschub.

Auf die Problematik solcher Ideologiekritik einzugehen, ist hier nicht der Ort. Während und nach der Lektüre dieses anregenden Buches empfand ich in mir ein Bedauern darüber, dass Jaspers nicht bei Max Stirner angesetzt hat, der schon mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor die reine Willkür der ethischen Festlegung des Einzelnen (Einzigen) auf irgendwelche Attribute des wahren Menschseins festgestellt und zurückgewiesen hat. Das Problem des Jasperschen Philosophierens sehe ich nicht im Festhalten an der »Transzendenz« und der Scheidung in die Bereiche "Worüber-man-sprechen-kann" und "Worüber-man-nicht-sprechen-kann", sondern viel eher darin, dass er in der Manier einer weiterprotestantisierenden Theologie und einem monistischen Mystizismus den transzendenten Bezugspunkt nicht nur außerhalb der gegenständlichen (lies: rational fassbaren) Welt, sondern auch außerhalb der Person setzt.

Praktisch gesehen, verteidigt er zwar die Unmittelbarkeit des Einzelnen zum transzendenten Zentrum gegen die Anmaßung der priesterlichen, marxistischen oder psychoanalytischen Stellvertreter und Bibel-Hermeneutiker, die sich anmaßen für ihn zu wissen, was Sache ist. Dennoch begleiten den Philosophen auf Schritt und Tritt die hintergründigen Bilder der traditionellen Lebensordnung, in welcher er aufgewachsen ist und die ihm lieb geworden sind. Selbst der von ihm hoch verehrte Max Weber stürzte in seiner Achtung, als er nach dessen Tod von einer geheim gehaltenen außerehelichen Liebschaft erfuhr. Jaspers bleibt in seiner Achtung vor dem Eigensein der Person  und seiner Gegnerschaft gegen jede orientierende Wertaussage zur Lebensführung inkonsequent. Das »Wesen der Religion« will er nicht durchschauen.

Konsequent wäre erst der Schritt, die Transzendenz gewissermaßen "in" die Person selbst zu verlegen. Die rigorose Trennung der Wissenssphären (in der ich Jaspers im Prinzip zustimme) beträfe dann einerseits die (gegenständliche) Welt und die sie betreffenden Erkenntnisprobleme als Forschungsgegenstände der Wissenschaften und anderseits das jedem wissenschaftlichen Zugang versperrte Geheimnis von Eigensein. Dieses bedarf weniger des »philosophischen Glaubens« als vielmehr "philosophischer" Leidenschaft. Das immer ganz persönliche Transzendieren der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit und der wissenschaftlichen Weltkonstukte eignet der »Kunst von Eigensein« [ac]. Leben ist am ehesten im Bild der Kunst zu fassen. Man kann bei Meistern das Handwerk lernen, sich von anderen Künstlern inspirieren lassen, doch Künstler kann ich nur aus mir selber werden. Der "oberste" Sachverständige für diese meine Kunst jedoch bin nur ich.

antonio cho
Zürich im Juli 2002

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