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Allan Guggenbühl
Wer aus der Reihe tanzt lebt intensiver
Mut zum persönlichen Skandal

2001 Kösel Verlag, München, 191 Seiten
Kartoniert SFr. 27.90
ISBN 3-466-30539-X


Der Autor geht davon aus, »dass die meisten Menschen große Mühe haben, über längere Zeit Normalität zu leben ... Für den Menschen ist Normalität längerfristig ein unerträglicher Zustand. Wenn alles klappt, stellt sich innerliche Unzufriedenheit ein

Mit persönlichem Skandal meint er eine Verhaltensweise, »die einem sozialen Code, einem Ritual, einer Konvention oder einem moralischen Grundsatz widersprechen«.
Als Rituale spricht er tradierte Verhaltensabläufe an, die allen Mitgliedern einer Gruppe bekannt sind. Sie dienen der psychischen Orientierung und Positionierung im Zusammenleben, und unsere Identifikation mit ihnen ist größtenteils unbewusst. Sie dienen dem Zusammenhalt und damit auch der Macht der Gemeinschaft ebenso, wie die offenkundig oder versteckt geltenden Normen und moralischen Vorstellungen. Je nach dem sozialen Kreis, in dem wir uns bewegen, gelten unterschiedliche, z.T. divergierende Regeln. Sie geben dem Einzelnen Sicherheit, aber zwingen ihn auch in ein soziales Korsett. Das Diktat der Gruppe erfolgt über offene und versteckte Sanktionen.

Das Wagnis des persönlichen Skandals rebelliert gegen dieses Diktat durch das Sich-Hinwegsetzen über Werte der Gemeinschaft. Skandale sind das, was die Emotionen in der Gesellschaft hochgehen lässt, doch die gemeinsame Empörung stärkt auch das Gruppengefühl. Sex, Geld, Macht, Gewalt und Erziehung sind bevorzugte Themen. Mut bedarf es zum skandalösen Verhalten, weil diese Regelverstöße tiefen Schamgefühlen zuwiderhandeln müssen. »Skandale sind kollektive Dramen. In ihnen spielen Motive, Mythen und Wünsche einer Gruppe, Gemeinschaft oder ganzen Nation eine Rolle ... Durch den Skandal spüren wir, dass Organisationen eigentlich etwas Lebensfremdes, Unnatürliches sind.« Das ist Romantik im ursprünglichsten (besten) Sinne des Anliegens.

Meist wird das ungewöhnliche Verhalten des Skandalierers analysiert und zum Opfer seiner Umwelt oder Kindheit oder sonstiger Umstände erklärt. »Durch die Identifizierung von vermeintlichen Ursachen haben wir das Fehlverhalten aus der Welt geschafft ... Die Wirkung eines Skandals auf die eigene Seele wird so aber nicht reflektiert. Der Skandal wird nur zu einem sinnlosen Ereignis und nicht zu einer Gelegenheit, sich eines potenten seelischen Bildes bewusst zu werden. Wenn wir den Skandal ausschließlich kausal, kontextuell oder psychopathologisch erklären, hören wir nicht auf seine Botschaft ... Skandale sind eigenständige psychologische Leistungen ... der Versuch, eine persönliche Geschichte zu schreiben, ... die ... als Gegensatz zum System ... unserer tatsächlichen Persönlichkeit gerecht wird.«

In seinem Buch bringt Guggenbühl ein Phänomen zur Sprache, in welchem der existenziell unaufhebbare Zwiespalt zwischen der Würde des Einzelnen und den unterschiedlichsten Interessen der Gemeinschaft zum Ausdruck kommt. Der tiefere Sinn des Skandals ist ein emanzipatorischer, sei es gegenüber der Gesellschaft im öffentlichen Skandal oder gegenüber der eigenen Familie und anderen persönlichen Beziehungen. Der persönliche Skandal ist immer »auch ein inneres Drama. Persönliche Skandale stellen unsere eigenen, verinnerlichten Norm- und Moralvorstellungen auf den Kopf ... subjektiv erleben wir, dass eine andere Kraft in uns das Szepter übernommen hat.« In der Jung'schen Terminologie nennt der Autor diese Kraft die Schattenpersönlichkeit, die der einzelne bei sich vernachlässigt hat.

Auch wer in der Psychologie C.G. Jungs nicht zu Hause ist, kann dieses Buch mit Gewinn lesen; denn es behandelt in anschaulicher Weise einen wichtigen Aspekt unseres Lebens, dem selbst in der Psychologie keine übermäßige Beachtung zuteil wird, Lebensnöte, die überflüssigerweise oft eher pathologisiert werden. Der Mut zum persönlichen Skandal sprengt die Selbstverständlichkeiten im bisherigen Leben und kann verengte Perspektiven erweitern und bereichern.

Allerdings müsste, aus meiner Sicht, dieses Thema philosophisch weiter vertieft werden. »Die Kunst des Scheiterns«, z.B., ist sicherlich ein erlösender Entwurf gegenüber einem Konzept vom Leben als (Erfolgs-) Aufgabe. Und doch erscheint dabei der Begriff "Scheitern" noch in unkritischer Selbstverständlichkeit. Im persönlichen Erleben kann "Scheitern" ein Gefühl des Ungenügens zum Ausdruck bringen, im Umgang mit der inneren Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Geborgensein in der Gemeinschaft (hier durch Erfüllung der in ihr herrschenden Wertvorstellungen) und dem Bedürfnis ganz sich selbst zu bestimmen. Die persönliche Bedeutung des Begriffs ist aber meist verwoben mit der gesellschaftspolitischen Indoktrination, welche gegenüber dem Einzelnen ihren Herrschaftsanspruch als Hüterin der gültigen Werte durchsetzen will. Das persönliche Gefühl des Scheiterns kann aber durchaus auch auftreten bei der Unterwerfung unter das Diktat der Gemeinschaft. Wenige erleben auch eine erfolgreiche Karriere als Scheitern.

Guggenbühl beschreibt den persönlichen Aufstand gegen das Diktat des gemeinschaftlich Guten schließlich doch in braven Grenzen. Aufklärend verweist er auf die "Macht der Gruppe in uns". Er bejaht den "Skandal", das "Scheitern", den "Abschied von der Kontrolle". Aber immer wieder bemüht er einen tieferen Sinn dahinter. Da mag C.G. Jungs Vorstellung vom archetypischen Selbst und seinen Individuationsimpulsen mit im Spiel sein, die Seele, die sich »selbst inszeniert«. Vielleicht braucht es Mut in unserem Denken, auf die Annahme eines tieferen Sinnes ganz zu verzichten. Auch der pragmatische Sinn erscheint mir fragwürdig: »Dank der öffentlichen Traumatisierung [durch den Skandal] entwickeln sich der Einzelne und die Öffentlichkeit weiter.« Unbefangener von therapeutischem Zweckdenken könnte man sagen: Es bewegt sich (vielleicht) etwas. Wohin und zu welchem Glück oder Unglück, zu welcher Ernüchterung oder Bereicherung bleibt offen.

Wenn der Autor zum Schluss »eine Kultur, die Skandalen einen Platz gibt« einfordert und für Toleranz und »eine pragmatische Moral« plädiert, »die nicht genaue Richtlinien für den Menschen vorschreibt, sondern von Basiswerten ausgeht, deren Auswertung und Umsetzung dem Einzelnen vorenthalten bleiben«, dann kann ich ihm in gesellschaftspolitischer (und das heißt immer auch machtpolitischer) Hinsicht zwar zustimmen. Und doch halte ich es für eine Illusion zu glauben, die Bedürfnisse der Gemeinschaft und die Würde der Einzelnen könnten je in irgend einer Weise harmonisiert werden. Der Zwiespalt ist unaufhebbar. Der Einzelnen wird in jeder denkbaren Gemeinschaft großer Wachsamkeit und Anstrengung bedürfen, sich seine Würde als Einzelner selber zu schaffen (die schenkt ihm kein "Menschenrecht"). Die Kulturleistung der persönlichen Revolte wird immer wieder neu erkämpft, nicht nur und nicht in erster Linie politisch, sondern privat — und sie hat keinen tieferen Sinn, durch sie wird Sinn erst geschaffen. Es ist mein eigener Sinn, und er ist sterblich.

antonio cho

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der Autor:

Allan Guggenbühl, *1952,
Leiter des Institutes für Konfliktmanagement und Mythodrama in Zürich,
C.G.Jung-Dozent