... Spuren der Romantik Rainer Maria Rilke

Die romantische Klage des 22-jährigen Rilke


Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

verfasst in Berlin-Wilmersdorf, 21. November 1897
veröffentlicht im Versbuch »Mir zur Feier«, 1899


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antonio cho
Vom Erwürgen des Erlebens
(Assoziationen und Kritik zu Rilkes: »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«)

Für René Descartes ist Philosophie das Studium der Weisheit. Und diese sei »nicht nur die Klugheit im täglichen Leben, sondern ein vollkommenes Wissen all der Dinge, die der Mensch erkennen kann, sowohl um eine Regel für sein Leben zu haben, wie um seine Gesundheit zu erhalten, wie um alle Künste zu erfinden.« Zur Erkenntnis wird das, was ich klar und deutlich erfasse (clara et dinstincta percepio). Klar erkenne ich die Dinge, die unmittelbar, von allem anderen unterscheidbar, vor mir stehen. Deutlich erkenne ich sie, wenn ich sie bis in ihre letzten Elemente zerlege und sie daraus dann wieder aufbauen kann.

Das Ideal der präzisen und unmissverständlichen Begriffe gilt nicht nur im philosophischen und verschärft noch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch, sondern in allen Lebensbereichen, in denen die Effizienz der Kommunikation an erster Stelle steht. Sogar für die psychopathologische Beschreibung unseres Erlebens und Verhaltens werden in psychiatrischen Normenkatalogen Wörter zu Termini getrimmt und damit die sprachliche Darstellung unserer Befindlichkeit und ihrer Folgen begrifflich "klar" geregelt, damit wir auch wissen, welche "seelische Störung" wir nun genau haben und sie international kommunizierbar und verwaltbar wird (z.B. wegen Versicherungsansprüchen).

Mich fürchtet vor der Menschen Wort. Die Reglementierung der Worte in klar definierten Begriffen hat Werkzeugfunktion, so wie ein Hammer, eine Säge oder eine Schaufel, zur Bearbeitung der Welt. Oder wir brauchen sie gleich Maschinenteilen, Zahnrädern, Achsen, Hebeln im präzisen Bau unserer Theorieapparate. Auch damit bearbeiten wir die Dinge der Welt. Aber in in dieser Perspektive halten wir Ausschau nach Zusammenhängen der Elemente, in welche wir die Dinge zerlegt haben. Wir konstruieren uns Erkenntnis, so wie wir Pläne zeichnen vom Berg, den es zu bezwingen, zu umzingeln, zu bewältigen gilt. Die Steigung wird in starren, winzigdünnen Kurven geschachtelt. Die Wälder als stumme, einfarbig grüne Fläche markiert, der erhabene Gipfel, ein winziges Kreuzchen mit einer toten Zahl versehen.

Kein Berg ist ihnen mehr wunderbar. Der Berg kann uns aber noch mehr sagen, wenn wir ihn sprechen lassen, ohne Worte, ohne Vermessungen, jenseits aller denkbaren theoretischen Konzepte. Wunder leben jenseits allen mitgebrachten Glaubens. Sie kommen auf uns zu, wenn wir unbefangen genug sind, uns staunend überwältigen zu lassen. Bleiben wir befangen in unserer deutlichen Ansprache: »Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus ...«, laufen wir Gefahr die Möglichkeiten unseres Erlebens zu erwürgen, weil wir nicht mehr fähig sind, unser "Vorwissen", unseren "Theorieapparat", der unsere Wahrnehmung selbstverständlich steuert, etwas ruhen zu lassen.

Sie wissen alles, was wird und war. Das Problem liegt tiefer als bloß in der übertriebenen "Wissenschaftsgläubigkeit" oder im alleinseligmachenden Glauben an den technischen Fortschritt. Es geht um die konservative Ängstlichkeit, die Flucht in das Sicherheitsgefühl unseres Vorwissens und unserer Weisheit. Man sagt, Kinder könnten eher noch staunen.

Ihr bringt mir alle die Dinge um. Das Klammern an die vertraute Orientierung mag in vielen Belangen des Lebens wichtig sein; doch es birgt auch die Gefahr in sich, dass die verengte Perspektive unsere Wahrnehmung verschließt gegenüber dem Reichtum der Welt. In unseren durchaus nützlichen Weltkarten sind die Dinge, die sie berühren, »starr und stumm«. Erst wenn wir den Blick von den Karten lösen, kann uns ihr Leben begegnen, können wir sie singen hören.

Auch die Worte dieser Zeilen sprechen die Dinge zu deutlich aus. Vielleicht tut das auch schon Rilkes Gedicht selber. Man weiß, dass Rilke die Veröffentlichung seiner frühen Gedichte später bedauert hat. Kaum zehn Jahre danach schreibt er anders. Aber schon in diesem Gedicht, das er wohl besser in prosaischen Sätzen geschrieben hätte, klingt an, was vor seinem Tode lautet: «Veut-elle être rose-seule, rien-que rose?»

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Was aber ist diese Rose? >