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Joachim Ringelnatz
eigentlich Hans Bötticher
7. August 1883 in Wurzen - 17. November 1934 in Berlin

Inhalt

Klassiker des deutschen Humors

Als reisender Artist trägt er überall seine Verse vor

Er hat den Stein des Narren entdeckt (welcher dem Stein des Weisen zum Verwechseln ähnlich sieht.)
...
Ein Eulenspiegel, wenn auch einer aus Sachsen, mit koboldischer Lust am Durcheinanderbringen von Sinn und Unsinn. Sein Humor hatte eine derbe und eine sublime Seite, und unnachahmlich bleibt die geistige Grazie, mit der er von der einen zur anderen hinüberwechselt.

Alfred Polgar

  • Sohn des Fabrikanten und Jugendschriftstellers Georg Bötticher in Wurzen (Sachsen)

  • schon in der Kindheit Spürsinn fürs Abenteuerliche und Skurrile

  • vorzeitiger Schulabbruch, unstetes Wanderleben: 4 Jahre lang Schiffsjunge und Matrose, beschrieben in: Was ein Schiffsjungen-Tagebuch erzählt (1911) 

  • Kaufmannslehre in Hamburg

  • in England als Hausmeister

  • Lehrling in einer Dachpappenfabrik

  • in einem Münchner Reisebüro

  • 1909  „Hausdichter" des prominenten Münchner Künstlerlokals Simplicissimus, dort trug er seine grotesk-hintersinnigen Verse vor -
    Bekanntschaft mit Frank Wedekind, Erich Mühsam und andere Schwabinger Literaten

  • Veröffentlichungen diverser Gedichtbände:
    Die Schnupftabakdose
    Stumpfsinn in Versen und Bildern von Hans Bötticher und Richard Seewald, 1912
    Erzählsammlungen
    :
    Ein jeder lebt’s. Novellen von Hans Bötticher, 1913

  • arbeitete daneben als Bibliothekar und Fremdenführer

  • während des 1. Weltkrieges bei der Marine als Kommandant eines Minensuchbootes 

  • 1919 sich den Beinamen Ringelnatz (Seemannsausdruck für Seepferdchen) zugelegt

  • 1920 in der Münchner Bohéme auf und rezitiert im "Simpl", der Kathi Kobus
    Autor und Schauspieler bei Hans von Wolzogens Berliner Kleinkunstbühne „Schall und Rauch". 

  • Seine in Bänkelsang- und Moritatenton vorgetragenen, grotesk-satirischen, teils frivolen Gedichte ( vor allem seine Turngedichte, 1920) machten ihn auch auf Gastspielreisen bekannt und brachten ihm den entscheidenden Erfolg und die Anerkennung etwa von Alfred Polgar, Hermann Hesse, Ernst Rowohlt, Kurt Wolff, Alfred Flechtheim oder Asta Nielsen. 

  • sein alter Ego: die dezidiert autobiographische und bald legendäre Figur des Seemanns Kuddel Daddeldu (Kuddel Daddeldu oder Das schlüpfrige Leid, 1920; erweitert 1923)
    Hier hat er Tiefsinn und Unsinn gepaart.

  • auch verzweifelt-pessimistische Wesenszüge (zeigen sich in seiner Korrespondenz),  permanenter Existenzkampf

  • 1933 Auftrittsverbot, Beschlagnahme seinr Bücher ( Machtergreifung Hitlers)

  • 17. November 1934 stirbt er an einem Lungenleiden - völlig mittellos.

  •  Autobiographische Bücher:
    - Gustav Hester. Als Mariner im Kriege (1928)
    - Mein Leben bis zum Kriege (1931)

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Ich habe dich so lieb

Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
eine Kachel aus meinem Ofen schenken.
Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
leuchtet der Ginster so gut.
Vorbei - verjährt -
doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
ist leise.
Die Zeit entstellt alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.
Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache in einem Sieb.
Ich habe dich so lieb.

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An Gabriele B.

Schenk mir dein Herz für vierzehn Tage,
Du weit ausschreitendes Giraffenkind,
Auf daß ich ehrlich und wie in den Wind
Dir Gutes und Verliebtes sage.
Als ich dich sah, du lange Gabriele.

Hat mich ein Loch in deinem Strumpf gerührt,
Und ohne daß du's weißt, hat meine Seele
Durch dieses Loch sich bei dir eingeführt.
Verjag sie nicht und sage: "Ja!"
Es war so schön, als ich dich sah.
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Der Bumerang

War einmal ein Bumerang;
War ein weniges zu lang.
Bumerang flog ein Stück,
Aber kam nicht mehr zurück.
Publikum - noch stundenlang -
Wartete auf Bumerang

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Kindergebetchen

  Erstes

Lieber Gott, ich liege
Im Bett. Ich weiß, ich wiege
Seit gestern fünfunddreißig Pfund.
Halte Pa und Ma gesund.
Ich bin ein armes Zwiebelchen,
Nimm mir das nicht übelchen.

  Zweites

Lieber Gott, recht gute Nacht,
Ich hab noch schnell Pipi gemacht,
Damit ich von dir träume.
Ich stelle mir den Himmel vor
Wie hinterm Brandenburger Tor
Die Lindenbäume.
Nimm meine Worte freundlich hin,
Weil ich schon so erwachsen bin.

  Drittes

Lieber Gott mit Christussohn,
Ach schenk mir doch ein Grammophon.
Ich bin ein ungezognes Kind,
Weil meine Eltern Säufer sind.

Verzeih mir, daß ich gähne.
Beschütze mich in der Not,
Mach meine Eltern noch nicht tot
Und schenk der Oma Zähne.

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Überall

Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfenband.

Wie irgendwo daneben.
Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
Stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.

Wenn Du einen Schneck behauchst,
Schrumpf er ins Gehäuse.
Wenn Du ihn in Kognak tauchst,
Sieht er weiße Mäuse.

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Arm Kräutchen

Ein Sauerampfer auf dem Damm
Stand zwischen Bahngeleisen,
Machte vor jedem D-Zug stramm,
Sah viele Menschen reisen.

Und stand verstaubt und schluckte Qualm
Schwindsüchtig und verloren,
Ein armes Kraut, ein schwacher Halm,
Mit Augen, Herz und Ohren.

Sah Züge schwinden, Züge nahn.
Der arme Sauerampfer
Sah Eisenbahn um Eisenbahn,
Sah niemals einen Dampfer.

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Der Bücherfreund

Ob ich Biblio- was bin ?
Phile? "Freund von Büchern" meinen Sie ?
Na, und ob ich das bin !
Ha ! und wie !

Mir sind Bücher, was den anderen Leuten
Weiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,
Turnsport, Wein und weiß ich was, bedeuten.
Meine Bücher --- wie beliebt ? Wieviel ?

Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.
Bitte, doch mich auszureden lassen.
Jedenfalls: viel mehr, als mein Regal
Halb imstande ist zu fassen.

Unterhaltung ? Ja, bei Gott, das geben
Sie mir reichlich. Morgens zwölfmal nur
Nüchtern zwanzig Brockhausbände heben ---
Hei ! das gibt den Muskeln die Latur.

Oh, ich mußte meine Bücherei,
Wenn ich je verreiste, stets vermissen.
Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,
Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.

Ja natürlich auch vom künstlerischen
Standpunkt . Denn ich weiß die Rücken
So nach Gold und Lederton zu mischen,
Daß sie wie ein Bild die Stube schmücken.

Äußerlich ? Mein Bester, Sie vergessen
Meine ungeheure Leidenschaft,
Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.
Bücher lasten, Bücher haben Kraft.

Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,
Und Sie fragen etwas reichlich frei.
Auch bei andern Menschen als Barbaren
Gehen schließlich Bücher mal entzwei.

Wie ? - ich jemals auch in Büchern lese ??
Oh, sie unerhörter Ese---
Nein, pardon! - Doch positus, ich säße
Auf dem Lokus und Sie harrten
Draußen meiner Rückkehr, ach dann nur
Ja nicht länger auf mich warten.
Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,
Den man abseits ohne Zeit und Uhr
Düngt und erntet dann Literatur.

Bücher - Nein, ich bitte Sie inständig:
Nicht mehr fragen ! Laß dich doch belehren !
Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändig
Handsigniert sind, soll man hochverehren.

Bücher werden, wenn man will, lebendig.
Über Bücher kann man ganz befehlen.
Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,
Und die Seelen können sich nicht wehren.

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Lampe und Spiegel

"Sie faule, verbummelte Schlampe!"
sagte der Spiegel zur Lampe.
"Sie altes, schmieriges Scherbenstück!"
gab die Lampe dem Spiegel zurück.
Der Spiegel in seiner Erbitterung
bekam einen ganz gewaltigen Sprung.
Der zornigen Lampe verging die Puste:
Sie fauchte, rauchte, schwelte und ruste.
Das Stubenmädchen ließ beide in Ruhe
und doch - man schob ihr die Schuld in die Schuhe.
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Im Park

Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum
still und verklärt wie im Traum.
Das war des Nachts elf Uhr zwei.
Und dann kam ich um vier
Morgens wieder vorbei.
Und da träumte noch immer das Tier.
Nun schlich ich mich leise - ich atmete kaum -
gegen den Wind an den Baum,
und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips.
Und da war es aus Gips.
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