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Eugène Delacroix: Waisenkind auf dem Friedhof (Ausschnitt)
Wolfgang Kleespies

Angst verstehen und verwandeln
Angststörungen und ihre Bewältigung in der Psychotherapie

reinhardt verlag
2003, 198 Seiten
ISBN 3-497-01682-9
€ 19.90 / SFr. 33.60

Autor

Dr. med. Wolfgang Kleespies ist Facharzt  für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker; seit 27 Jahren ist er in eigener Praxis in Berlin und als Dozent und Lehranalytiker am C. G. Jung-Institut, ebenfalls Berlin, tätig.

Erfreulicherweise wieder einmal ein Buch über die Angst, welches nicht nur die enge Perspektive verhaltenspsychologischer Angsttheorien und Anti-Angst-Trainings oder rein biologische Auffassungen der Angst behandelt, sondern vor allem tiefenpsychologische Gesichtspunkte darstellt. Zwar dominiert in den Ausführungen die Begrifflichkeit der Psychologie von C. G. Jung, was aber im Hinblick auf die schulische Bindung des Autors nahe liegt.

Zuerst kommt der Autor auf die Biologie der Angst zu sprechen. Angst ist ein Aspekt unseres Gefühlslebens. Gefühle sind die leib-seelischen Vorgänge, mit denen wir spontan unsere jeweilige Situation in der Welt bewerten, nicht nur bewusst, sondern mehr noch unbewusst. Die Anlage zu unserem Gefühlsleben ist in unserer angeborenen Hirnorganisation vorprogrammiert. Im komplexen Zusammenspiel dieser biologischen Anlage, ihrer Reifung und der Geschichte unseres Erlebens und Verhaltens entsteht unser persönliches Seelenleben. Vorangegangene Erlebnisse und die Erinnerung an sie bestimmen unsere Erwartungen an das, was auf uns zu kommt. In diesem Zusammenhang ist unsere Fähigkeit zur Angst von zentraler Bedeutung.

Angst ist die Erscheinungsform unseres psychischen Alarmsystems, welches die Gefahren bewertet, die unser Leben bedrohen könnten, und die innere Spannung erzeugt, die uns zur Bewältigung oder Vermeidung (durch Flucht, Abwehr, Wegschauen usw.)
der Gefahr veranlasst. Aufgrund unserer Fähigkeit vorauszudenken und zu phantasieren und unseres Angewiesenseins auf Lernprozesse, wirken auch in unserem System der Angsterwartungen komplexe Zusammenhänge (als Jungianer widmet der Autor dem Begriff des psychischen "Komplexes" besondere Aufmerksamkeit). So sind unsere Erwartungen nicht nur durch vernünftige Überlegungen, Wünsche und Befürchtungen bestimmt, sondern nebst angeborenen Angstbereitschaften auch durch unsere früheren Erlebnisse. Auch unser jeweils aktuelles Erleben wird nicht nur durch das aktuelle Geschehen, sondern auch durch (unsere bewusste oder unbewusste Erinnerung an) das früher Erlebte gefärbt.

Das ist mit ein Grund, warum das psychische Alarmsystem der Angst mich nicht nur vor Bedrohungen warnt, die mir wirklich gefährlich werden könnten, sondern mich auch zur Vermeidung von Situationen veranlasst, in die mich zu begeben, mir durchaus nützen würde. Abgesehen von hirnorganischen Störungen und traumatischen Katastrophenerlebnissen spielt der Verlauf unserer Kindheitsgeschichte die wesentliche Rolle, wie anfällig unser Angstsystem für solche Fehlalarme auch im späteren Leben ist. Eine erhöhte Anfälligkeit bezeichnet der Autor mit dem altehrwürdigen Terminus "neurotische Angst".

In seiner Tiefenpsychologie der Angst nimmt der Autor die Feststellung C. G. Jungs zum Ausgangspunkt, dass die "missglückte Anpassung an das Leben" eine der wichtigsten Quellen für die Entstehung von Neurosen sei. Im Gegensatz zur Furcht vor realen Gefahren "finden wir bei Ängsten und Angststörungen keine realen äußeren Bedrohungen". Es sind vielmehr "innere" Gefahren, "unbewusste Bewertungen und Vorstellungen ... die eine Angst hervorrufen" und zur Abwehr veranlassen.
Den Kern des Angstproblems nennt der Autor den "Archetypus der Angst", nämlich die Existenzangst sowohl als Angst vor der Existenz, vor den "Erfordernissen des Lebens", als auch als Angst um die gefährdete Existenz und schließlich als Angst vor dem Schuldigsein eines "nicht gelebten Lebens" (was am ehesten aus dem quasireligiösen Mythos zu verstehen ist, dass jedes Individuum die Lebensaufgabe habe, "sich selbst" zu werden, was auch immer das sei).

Der mittlere Teil des Buches geht auf die häufigsten Angststörungen und weitere Angstformen und Angstthemen ein. Wohltuend erschien mir dabei, dass sich der Autor nicht allzu stark von der heute (vor allem auch wegen der Bedürfnisse der Krankenkassen) überhand nehmenden bürokratischen Verwaltung des Seelenlebens durch internationale Klassifikationskataloge der Krankheiten einengen lässt. Anderseits verlieren die Präsentationen verschiedener Angststörungen gelegentlich allzusehr die "Bodenhaftung", wenn der Autor unter Anwendung altehrwürdiger tiefenpsychologischer Theorien (seien sie von Freud, Jung oder anderen) zu (oft mythologisch formulierten) Überdeutungen gewisser Symptome ansetzt. M.E. hätten seine Ausführungen an Prägnanz gewonnen, wenn er die überaus nützlichen Arbeitshypothesen von hintergründiger Verlustangst, Schamangst, Angst vor Orientierungsverlust u.ä. noch instruktiver herausgearbeitet hätte. Fragwürdig in ihrem Aussagegehalt sind auch allseits beliebte "Ursachen"zuschreibungen wie «das mangelhafte Selbstvertrauen», denn dieser Mangel ist selbst die angesprochene Angstform, nicht deren Ursache. Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, auf dieses bei vielen Psychologen verbreitete Missverständnis näher einzugehen. Das gilt auch für andere fragwürdige Ausführungen, wie die über das angeblich «magische Denken» in der analen Phase (1½ - 3 jährig !), eine schon von Freud unterschätzte Komplexität magischen Denkens, welche wohl vom der Biologie nachempfundenen Mythos herrührt, dass sich auch in der psychischen Ontogenese die Phylogenese der Menschheitsgeschichte wiederhole.

Der letzte Teil des Buches ist schließlich, wenn auch mehr summarisch, dem Umgang mit der Angst und den therapeutischen Zugängen zu den Angststörungen gewidmet. Ausführlicher wird dabei die Arbeit mit Träumen skizziert. Wichtig ist dem Autor, dass wir «speziell Angst- und Albträume nicht nur als "Kundschafter" unserer Seele auffassen, die Auskunft geben über unsere innere Verfassung, sondern in ihnen auch "Botschafter" und Vermittler zwischen Bewusstem und Unbewusstem sehen, im Dienste der Angstbewältigung». Wertvoll erscheint mir auch die Jungsche Metapher der Arbeit mit dem «Schatten», der Prozess der bewussten Integration der unangenehmen und verdrängten Persönlichkeitszüge, der «"perils of the soul", der unbewussten Gefahren im Sinne der Angst erregenden Komplexe in uns, die unser Erleben und Handeln blockieren».

Mehr versöhnlich als wissenschaftlich schlüssig zieht der Autor den Bogen von der Psychoanalyse zur Verhaltenstherapie mit dem Verweis auf die Neurobiologie, welche in der Amygdala des Gehirns sowohl das Angstgedächtnis, als auch den Angstgenerator sehe. Zum Glück sind diese Anmerkungen über die bei den verschiedenen Methoden unterschiedlich benutzten neuronalen Bahnen und Hirnregionen nur kurz – der Gefahr einer heillosen (wissenschaftlich unhaltbaren) Vermischung unterschiedlicher Perspektiven ist er so knapp entronnen. Die Tendenz Kausalitäten zu formulieren, wo bestenfalls grenzüberschreitende Metaphorik herrscht, zieht sich allerdings durch das ganze Buch. Die «Erkenntnisse der Neurobiologie» sind in Wirklichkeit weit entfernt davon, über die reichen Wunschphantasien der Hirnforscher und der Psychologen hinaus, bereits fundierte Schlüsse von elektrophysiologischen und chemischen Prozessen und Strukturen auf die geistig-seelischen Inhalte und Bewegungen der Angst zu erlauben. Auch wenn zwei Perspektiven, wie hier die biologischen und die psychologischen Prozesse der Angst, nicht voneinander zu trennen sind, so heißt das noch lange nicht, dass es sinnvoll ist, ihre Betrachtungsweisen zusammenführen zu wollen, auch wenn die Verlockung für den Arzt zu verstehen ist. Auch die Hausse und die Baisse an der Börse, das Wetter und die Erkenntnisse der Physik sind letztlich nicht voneinander zu trennen und trotzdem ... Doch das sind erkenntnistheoretische Fragen.

Die neurophysiologische Seite der Angstphänomene wird im kurzen Schlusskapitel über die medikamentöse Behandlung angesprochen. Durch angstlösende Medikamente wird die Erregungsübertragung zwischen den Nervenzellen in verschiedenen Hirnregionen gefördert oder gehemmt. Durch solche geeignete chemische Interventionen lassen sich die physiologischen Angsterscheinungen mindern, was durchaus auch den psychischen Zustand verändern kann, nicht zuletzt auch, weil die körperliche Befindlichkeit über die Selbstwahrnehmung und Gefahrenerwartung mit dem seelischen Alarmzustand in Wechselwirkung steht. Allerdings stimme ich mit dem Autoren überein, dass «jedoch an erster Stelle bei allen dargestellten Angsterkrankungen immer die Möglichkeit einer Psychotherapie geprüft» werden sollte.

Antonio Cho

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